Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims

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Dies ist die Geschichte von Jamie Matthews, einem Jungen, der in London lebt. Ein Junge, wie es viele gibt: mit Vater, Mutter, Zwillingsschwestern und seinem Kater Roger. Alles ist gut, bis zu jenem verhängnisvollem Tag im September, der sein Leben und das seiner Familie grundlegend verändert. Der Vater sucht Vergessen im Alkohol, die Mutter bei einem anderen Mann. Die eine Schwester, Jasmine flüchtet sich in die Pubertät, Jamie in seine Spider Man-Welt. Und die andere Schwester, Rose lebt seither auf dem Kaminsims in einer Urne …

Rose wurde nur 10 Jahre alt

Sie kam bei einem Anschlag ums Leben, bei welchem sie von einer Bombe zerrissen wurde, die von Muslimen in einem Abfalleimer am Trafalgar Squere deponiert wurde.

Schwer traumatisiert blieben die Eltern und Geschwister zurück. Jamie war damals fünf Jahre alt, konnte das Ausmaß des Geschehens nicht begreifen, erinnert sich auch gar nicht mehr an Rose und hat nie um sie geweint. Mutter und Vater konnten sich nicht einig werden, ob eine Erd- oder Feuerbestattung stattfinden sollte. So wurde ein Teil von Rose begraben, damit die Mutter einen Ort zum Trauern hat. Andere Teile wurden verbrannt und in einer Urne aufbewahrt. Für den Vater, der zu der Urne spricht, ihr Essen hinstellt und es jedes Jahr am Gedenktag nicht schafft die Asche zu verstreuen. Seinen Hass auf Muslime äußert er häufig. Dieser ist unter anderem ein Grund, weshalb er mit den Kindern aus London aufs Land zieht, nachdem ihn seine Frau verlassen hat.

Jamie gefällt es gut hier, er hofft in der Schule neue Freunde zu finden

Dem ist aber leider nicht so – im Gegenteil: er wird gemobbt. Unerwartet findet er Unterstützung und Hilfe von seiner Banknachbarin Sunya, einer Muslima mit Kopftuch. Sie sagt, sie sei Girl M, die weibliche Version von Spider Man und ihr Hijab ihr Zaubermantel, der um sie flattert, wenn sie läuft. Ein bißchen wie Pippi Langstrumpf: mutig, einfallsreich, lustig . Es entwickelt sich eine Freundschaft, die Jamie in Gewissenskonflikte stürzt, meint er doch gegen den Willen und hinter dem Rücken des Vaters zu handeln.

Die Trauer des Vaters tun dem Leser im Herzen weh

So einfühlsam ist seine Rolle beschrieben. Fünf Jahre sind seit dem gewaltsamen Tod seines Kindes vergangen.  Doch der Schmerz ist nach wie vor da, betäubt durch Alkohol, genährt durch den Hass auf die Muslime. Er arbeitet schon länger nicht mehr, überlässt die Kinder sich selbst. Bei einem Elternsprechtag, als er seinen Sohn mit der Mutter und Sunya zusammen sieht, kommt es zum Eklat. Dann erlischt vorläufig die Freundschaft der Kinder.Doch sie flammt am Ende des Buches durch einen Zwischenfall wieder neu auf.

Schmerzlich vermissen die Kinder ihre Mutter

Seit sie Jamie das Spider-Man T-Shirt zu seinem Geburtstag geschickt hat, haben sie nichts mehr von ihr gehört. Das T-Shirt trägt er Tag und Nacht, um es sicher bei der Rückkehr seiner Mutter anzuhaben. Am Ende des Buches wird über das Kleidungsstück ein Geheimnis gelüftet.

Der Junge überlegt sich, wie er seine Mum und seinen Dad wieder zusammenbringen könnte. Beim Fernsehen kommt ihm plötzlich die zündende Idee: „komm zu uns zur Talentshow und verändere dein Leben“ so lautet ein Slogan einer Fernsehsendung. Kurzerhand meldet er sich und Jas an. Und wirklich: die Eltern kommen beide um sich die Show anzusehen, mehr nicht. Jamie’s Plan geht nicht auf, er ist ein weiteres Mal von Mum enttäuscht worden, ebenso auch Jasmine. Sie ist über das Verhalten der Mutter schon etwas abgeklärter, Jamie glaubt immer noch an sie.

Bruder und Schwester haben ein sehr gutes Verhältnis

Sie stützen sich gegenseitig, geben sich Halt, trösten einander. Jas übernimmt Mutterpflichten: kocht, sorgt sich um seine Freundschaften und Entwicklung. Für eine fünfzehnjährige nicht gerade die richtige Rolle. Doch sie lebt auch ihre Jugend: verliebt sich in Leo, schwänzt die Schule, bekommt Essstörungen. Wunderschön und einfühlsam die Passagen, wenn sich die Geschwister Mut zum Weitermachen zusprechen.

Meine Meinung:

ich habe die in der Ich-Form geschriebene Erzählung von Jamie von den ersten Seiten an geliebt. Ich habe mitgelitten und -gehofft, dass endlich das Geburtstagsgeschenk seiner Mutter eintrifft; habe geweint, als er seinen Kater sucht und tot findet und als er von seinen Klassenkameraden gemein behandelt und aufs Schlimmste verprügelt wird. Und mich mit ihm über das durch seinen Einsatz gewonnene Fußballspiel seiner Schule gefreut. Kurzum, der Roman ist an Facettenreichtum der Gefühle kaum zu überbieten. Und den Jungen muss man einfach gern haben: rothaarig, grünäugig, voller Fantasie. Er hat es in seinem 10-jährigen Leben nicht leicht gehabt: der Tod der Schwester, die Trennung seiner Eltern und dann die große Sprachlosigkeit über das Geschehene. In der Familie werden die Dinge nicht beim Namen genannt. Auch Jamie ist Meister darin: von seinen zu klein gekauften Fußballschuhen vom Vater wie über dessen Alkoholproblem wird eisern geschwiegen.

Sunya mit den fast schwarzen, funkelnden Augen ist ein Glücksfall für Jamie. In der Schule selber Außenseiterin schließt sie sich ihm an und rettet in mit Einfallsreichtum und Witz aus so mancher Situation. Köstlich die Szenen, als er bei ihr Zuhause eingeladen ist und er sich immer wieder umschaut, ob dort jemand eine Bombe bastelt oder unter dem Turban eine versteckt hat. Denn diese und andere Vorurteile hat er von seinem Vater gehört. Es ist jedoch das Gegenteil der Fall: Sunya und ihre Eltern sind sympatisch, offen und herzlich. Welches ist nun die Wahrheit: Vaters oder jene, die er selber bei der fremden Familie erlebt?

Über die Rolle der Mutter in diesem Roman habe ich sehr ambivalente Gefühle: einerseits bringe ich Verständnis auf, dass sie mit der Sprachlosigkeit ihres Mannes nicht zurechtkommt. Andererseits Unverständnis, eine Tochter verloren zu haben und dann freiwillig ihre beiden anderen Kinder zu verlassen, sich nicht mehr zu melden, so zu tun als seien diese auch für sie „gestorben“. Auf die Briefe von Jas antwortet sie nicht, sie war im Ausland. Sagt –  mir völlig unverständlich – sie wisse, dass sie gut zurechtkommen, obwohl in den Briefen vom Gegenteil die Sprache ist.

Der Autorin gelingt es perfekt sich in Menschen hineinzuversetzen: vom 10-jährigen Jungen über den trauernden Vater bis hin zum pubertierenden Mädchen. Psychologisch gut durchdacht, zum Beispiel dass der Junge erst nach fünf Jahren und nach dem Tod seines geliebten Katers den Verlust eines geliebten Wesens realisiert. Er verstand das Verhalten seines Vaters die Urne mit der Asche von Rose betreffend: „Er konnte sie nicht loslassen. Er liebte sie zu sehr, um Abschied von ihr zu nehmen.“

Der Autorin gelingt es außerdem Spannung in Szenen aufzubauen: dies stellt sie meisterhaft unter Beweise, als Jamie auf das Geburtstagsgeschenk seiner Mutter wartet sowie beim Talentwettbewerb vor dem Auftritt und beim Suchen des Katers. Der Leser wird in das Geschehen hineingezogen, leidet, fiebert mit – denkt enttäuscht zu werden, ist erleichtert oder seine Befürchtungen werden bestätigt.

Dieses Buch ist eines der wenigen, das ich ein zweites Mal gelesen habe und das ich uneingeschränkt weiterempfehle.

  • Autorin: Annabel Pitcher
  • Übersetzerin: Sibylle Schmidt
  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • ISBN-13: 978-344231253
  • Originaltitel: My Sister lives on the Mantelpiece
  • Genre: Familie; andere Kulturen
  • Ausgeliehen: Bibliothek Bruneck, gesehen auch in Bibliothek Toblach und Sexten

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